Nüchtern!

Heute will ich Euch drei Passagen aus einem großartigen Buch herausschreiben, nämlich aus Daniel Schreibers  „Nüchtern“.

Dieses Buch hat maßgeblich zu meinem Verständnis für Sucht und Co-Abhängigkeit geführt und ich danke dem Autor, dass er sich geöffnet und getraut hat, dass alles aufzuschreiben.

Als ich darin las, dass Nicht-Trinker im Regelfall nicht kapieren, einen Alkoholiker vor sich zu haben, wurde mir klar, dass viele der üblichen Interpretationen zum Trinken und Trinkverhalten FALSCH sind.

Lest selbst – Das Buch ist voll von tiefen Einsichten über unsere benebelte Gesellschaft.

Er schreibt:
„Medizinisch gesehen gehen die Begriffe Alkoholmissbrauch, Abhängigkeit und Sucht fließend inerinander über, es ist kaum möglich, sinnvoll zwischen ihnen zu unterscheiden. Alkoholismus hat eine chamäleonhafte Qualität und ist sowohl von außen als auch von einem selbst nur schwer zu erkennen. Im Gegensatz zu anderen Süchten, sagen wir Zigaretten- oder Heroinkonsum, trinkt man immer „asymptomatisch“. Das heißt, mal trinkt man mehr, mal weniger, mal eine Zeitlang nichts oder kontrolliert, dann wieder viel zu viel. Im Unterschied zu anderen chronischen Krankheiten lässt sich Alkoholismus lange Zeit nicht klar diagnostizieren. Auch wenn das eigene Trinken „außer Kontrolle“ geraten ist und eine Reihe von Problemen verursacht hat, kann man es viele Jahre weiter betreiben, ohne dass man körperlich zusammenbricht. Auch deshalb kann man sich sehr lange vormachen, dass man eigentlich gar kein Problem hat.“

Menschen, die selbst kein Problem mit dem Trinken haben, erkennen Alkoholismus im Regelfall nicht. Sie denken, jemand habe einen großen Abend, feiere einfach gerne oder sei eben ein „Genussmensch“. Selbst wenn sie den morgendlichen Kater bei ihrem Kollegen mitbekommen, selbst wenn sie merken, dass der Freund oder die Freundin immer launischer, egomanischer und unzugänglicher wird und eigentlich nur noch sozialverträglich ist, wenn er oder sie trinkt, stellen sie die Diagnose Alkoholismus nicht.“

„Der populäre Slogan „work hard, play hard“ – frei übersetzt „Wer arbeiten kann, der kann auch feiern“ – stellt so etwas wie die ideologische Essenz des bürgerlichen Trinkens dar. Anstatt einer Work- Life-Balance zu erreichen, stellen viele Menschen, ohne dass es ihnen auffallen muss, eine Work-Drinking-Balance her. Hinter sehr vielen Burnout-Diagnosen steckt ein so unvorhergesehener wie unvermeidlicher Unfall in dieser work-Drinking-Balance. Burnout ist eine der Paralleldiagnosen, die am häufigsten mit dem bürgerlichen Trinken einhergeht, jenem Trinken, das auf keinen Fall Abhängigkeit sein darf. In fast jeder Klinik, die diese Erschöpfungszustände behandelt, sind Entzugsprogramme und auf den Alkoholkonsum fokussierte Gesprächstherapien ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung. Natürlich keiner, der groß publik gemacht wird. Es ist einfacher für uns zuzugeben, einen Burnout zu haben, als ein Alkoholproblem.“

 

 

 

12 Antworten auf “Nüchtern!”

  1. Ich als Nicht-TrinkerIn vermute, dass es sich womöglich ähnlich verhält wie mit den sog emotionalen Essern. Ein gutes Beispiel finde ich, da es sichtbar macht, dass es um ein gestörtes Gefühlsleben geht.
    Es braucht halt einen Trigger oder ein Down und der Mensch greift zu Suchtmitteln. Erst im fortgeschritteneren Stadium einer Sucht verselbstständigt sie sich und übernimmt den Alltag völlig.

    Meiner Ansicht nach geht es bei den allermeisten Süchtigen – egal zu welcher „Droge“ (Bsp. Alkohol, Kokain, Chrystal, Haschisch, Overeating, No-Eating, Arbeit, Sport, Hardcore Parties, Sex, Social Media, Gaming etc.) sie greifen – vor allem um Selbstmedikation durch legal / illegal Highs und Unterstützung von psychologische Abwehrmechanismen (wie Betäubung, Verdrängung usw.).

    In aller Regel geht`s eben nicht um das Suchtmittel, sondern um dahinterliegende Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und all diese miesen Saboteure.
    Daher hilft es auch nicht, dem Suchtmittel abzuschwören, die psychische Erkrankung dahinter muss gebessert werden.
    Das dauert Jahre – ohne Linderung, aber mit Konfrontation mit den eigenen Problemen. Daher kommen auch die hohen Rückfallraten und sog. Suchtverlagerungen (man verzichtet z.B. auf Alkohol und nimmt dagegen Kokain) zustande.

    Die Vorstellung (die ich auch immer hatte) – Süchtige seien Leute, die sich amüsiert haben und einfach nur leichtsinning den noch größeren Kick gesucht hätten – ist in aller Regel falsch. Das ist jedenfalls meine revidierte Meinung.

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  2. @ Karmen

    Zitat: „….

    Als ich darin las, dass Nicht-Trinker im Regelfall nicht kapieren, einen Alkoholiker vor sich zu haben, wurde mir klar, dass viele der üblichen Interpretationen zum Trinken und Trinkverhalten FALSCH sind….

    Es gibt auch eine ganz einfache medizinische Erklärung, der Süchtige regt durch sein Verhalten einen neurologischen Vorgang in seinem Gehirn ständig neu an.

    Im Körper gibt es Rezeptoren, die eigentlich für die physische Selbstregulierung gedacht sind. Beim Beispiel Heroin dockt dieser Stoff an die vorhandenen Opiatrezeptoren der Zellen an, welche von Natur aus für die Aufnahme von Endorphinen, also natürlichen Botenstoffen des Gehirns, vorgesehen sind. Doch anstelle von Endorphinen nimmt die Zelle dann Heroin auf und wird süchtig danach. Dadurch entsteht ein fataler Kreislauf. Je mehr Suchtmittel von außen und aus unserem Denken kommen, desto weniger ist der Körper imstande, eigene Endorphine zu bilden und die Anzahl der Zellen verändert sich. Das Wachstum neuer Gehirnzellen ist blockiert.

    Bei einer Suchtentwöhnung wird dieser Kreislauf nun gestoppt und für diesen Vorgang zitiere ich mal Dr. Joe Dispenza, einen amerikanischen Arzt und Wissenschaftler:

    „…. Emotionen, von denen wir so lange abhängig waren, werden der Zelle nicht mehr zur Verfügung gestellt. Wenn wir standhaft bleiben, – und so überwinden wir jede Sucht, – dann durchbrechen wir die Reaktion, weil wir nicht auf die Stimme in unserem Kopf reagieren. Gleichzeitig durchbrechen wir die Reaktion auch chemisch, weil die chemischen Bedürfnisse der Zelle nicht erfüllt werden.“Schließlich wird die Zelle von ihrer chemischen Sucht befreit und wenn sie sich nun teilt, „reguliert sie sich nach oben. Sie lässt all die Rezeptorstellen los, die für diese emotionalen Zustände verantwortlich waren; jetzt befindet sie sich in einem harmonischen Zustand und der Körper erlebt Freude. …….. “

    Lg von A n g e l a

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    1. Hi Angela,
      Du hast recht der Gehirnstoffwechsel wird durch Drogen, aber auch Verhaltensmustern, die zur Hormonauschüttung führen, manipuliert, um die gewünschten Hochgefühle oder eine Gefühlsdämpfung herbeizuführen. Ich denke jedoch, du würfelst da etwas zusammen, was so nicht richtig ist.

      Nein, es gibt keine spezifischen Opiatrezeptoren. Die Sucht-„auslösenden“ (großer Unterschied!) chemischen Stoffe blockieren Rezeptoren, die zur Wiederaufnahme körpereigener Hormone / Botenstoffe wie Serotonin (, Noradrenalin, Dopamin etc. (= alles antriebsregulierend und stimmungsaufhellende Stoffe) gedacht sind. Das Gehirn reagiert auf diese Blockade mit der Ausschüttung einer Überdosis dieser körpereigenen Drogen – und wir werden „high“.

      Nach genau diesem Grundprinzip arbeiten übrigens auch alle Antidepressiva, die ja auch Wiederaufnahmehemmer genannt werden.
      Je hochpotenter eine Droge (oder Medikament auf Rezept) ist, desto wirksamer und flächendeckender die Blockade und desto schneller wird die Maximaldosis der Wiederaufnahmehemmer ausgeschüttet, so dass der Körper auf Befehl des irregeleiteten Hirns ganz urplötzlich mit einer Überdosis der körpereigenen Happy-Makers geflutet wird.

      Dummerweise gibt es einen Gewöhnungseffekt. Der Körper (nicht das Hirn als Schaltzentrale) gewöhnt sich an der erhöhten Pegel von Dopamin, Serotonin, Adrenalin etc. Das heisst, um ein High zu bekommen muss man nicht nur die Dosis der Wiederaufnahmehemmer steigern um einen Kick zu bekommen, sondern auch die Frequenz der Einnahme, damit man zwischen den Hochs noch als Mensch funktional bleibt.

      Der Unterschied zw. illegalen, hochpotenten Drogen und Psychopharmaka ist die geringere Dosierung bei Medikamenten und Begleitstoffe, die sicherstellen sollen, dass die Wirkstoffe langsam, über einen längeren Zeitraum freigesetzt werden. Das Ziel istja kein High, sondern ein gesunder, gleichmäßig hoher, nachhaltiger Pegel an Botenstoffen.

      Leistungssportler (Bsp. das sog. Runners-High) oder gar Workoholics erreichen ihr High durch die Überbeanspruchung ihres Körpers und auch Geistes (Stress => hoher Cortisol-Pegel). Körpereigene Abwehr-/Selbstschutzmechanismen beinhalten nämlich auch die Ausschüttung von den körpereigenen Drogen. Man erlebt das auch bei Schwerverletzten, die zunächst keinen Schmerz spüren und voll da zu sein scheinen.
      Zudem schüttet der Körper bei Erfolgserlebnissen die Glücklichmacher aus. Nachweislich auch beim Essen oder social media „likes“…

      Kurzum, auch beim Sport & Arbeiten etc. muss die Dosis irgendwann gesteigert werden. Ja, und es gibt sogar auch Entzugserscheinungen.

      SORRY, Karmen….bin nen übler Schwaller. Vielleicht sollte ich auch einmal ein Buch schreiben?! 😉

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  3. Da ich nur die Kommentare gelesen habe, nicht das Buch – wenn auch das eine oder andere – fehlt mir hier stark die gesellschaftliche Komponente. Das Überangebot an fast allem (und immer wieder mehr desselben – das Supermarktmarmeladenregalproblem. Das sich am Weinregal nur wiederholt.). Die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. sogar Forderung von und nach Konsum. Das Werbungsversprechen, dass Glück käuflich (sein muß). Und eben die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Drogen, historisch (z.B. auch als Haltbarmachung verderblicher LEbensmittel. Und im Rahmen von Kulten) gewachsen – und hier vorneweg der Alk! Sie spielen eine Rolle gleichwertig wie die individuellen und medizinisch – physiologischen Bedingungen. Wollen also nicht vergessen sein. Jetzt ist berechtigt einzuwenden „aber ich kann vielleicht an mir etwas verändern – aber doch nicht am gesellschaftlichen Background?“ Schon. Aber wenn das übersehen wird, nicht bewußt gesehen wird gibt es wiede rein Opfer mehr vor dem übervollen Schnapsregal im nächsten Supermarkt, in der nächsten Kneipe, in der nächsten Tanke…

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